Interview mit Frau Dr. Eickelmann

Sie haben ein Buch über Cybermobbing geschrieben, wie heißt es und worum geht es?

Mein Buch trägt den Titel „‘Hate Speech‘ und Verletzbarkeit im digitalen Zeitalter. Phänomene mediatisierter Missachtung aus Perspektive der Gender Media Studies“. Das Buch beschäftigt sich aus einer medienwissenschaftlichen Perspektive mit der Frage, inwiefern Beleidigungen im Netz verletzen können. Es geht also um die Frage, was eigentlich eine Nachricht über das Internet oder auch ein Bild von einem Schlag ins Gesicht unterscheidet. Oder gibt es gar keinen Unterschied?

 

Ich habe versucht zu erläutern, dass Missachtung im Netz sehr wohl wie ein Schlag ins Gesicht wirksam werden kann, aber eben nicht muss. Für solche Phänomene, die ungewiss sind und die nicht so eindeutig festgelegt werden können gibt es einen Begriff: Kontingenz. Das spielt eine große Rolle in meinem Buch.

 

Wie entsteht Cybermobbing?

Als erstes fällt mir auf, dass Sie den Begriff „Cybermobbing“ so verwenden, als wäre eindeutig, was das überhaupt ist, aber können wir uns da eigentlich so sicher sein? Was z.B. unterscheidet Cybermobbing von sogenannten Shitstorms oder – das kennen Sie vielleicht aus dem Bereich digitaler Spiele  - das Trollen? Wir sehen also schon, dass es unterschiedliche Begriffe für die Praxis gibt, andere mit Beleidigungen welcher Art auch immer im Internet zu adressieren. Und jeder Begriff, der für diese Arten von Adressierung verwendet wird, geht von bestimmten Annahmen aus, die man nicht einfach voraussetzen, sondern zum Gegenstand der Diskussion machen sollte.  Das ist der Grund, warum ich lieber von „mediatisierter Missachtung“ spreche, ein Neologismus, der es erlaubt, neue Perspektiven auf beleidigende Adressierungen zu werfen.

 

Aber jenseits dieser Feststellung:  Mediatisierte Missachtung – oder eben Cybermobbing, wenn Sie bei dem Begriff bleiben wollen – stellt meistens eine Form der Sanktionierung dar, wenn vermeintliche gesellschaftliche Normen überschritten werden. Das kann sich z.B. auf Kleidernormen, Schönheits- und/oder Körperideale, aber auch gewisse Verhaltensnormen, die sich auf Geschlechtervorstellungen beziehen können. Wenn Sie sich z.B. nicht ‚männlich‘ genug verhalten (was auch immer das heißt), dann könnte allein dies zum Verhängnis werden. Auch eine Abstrafung aufgrund der sozialen Herkunft (wenn bspw. einige SchülerInnen keine angesagte Kleidung bekannter Labels kaufen können) ist denkbar. Grundsätzlich handelt es sich also um eine negative Bewertung von Abweichungen, die ganz unterschiedlich ausfallen können.

 

Zudem: Das Internet ist ein digitales Medium, das bedeutet, dass es sich um ein ziffernbasiertes Codiersystem handelt (Daten). Diese Daten, das kennen Sie, sind unendlich häufig und in Echtzeit kopierbar. Das wiederum hat zur Folge, dass sich Beleidigungen und/oder Erniedrigungen über Messanger und sogenannte ‚Soziale Netzwerke‘ in schwindelerregender Zeit verbreiten und immer wieder abrufbar sind.

 

Ist Cybermobbing ein Gewaltakt?

Diese Frage knüpft ein bisschen an meine Einleitung an: Die Cybermobbing-Forschung, die einen Schwerpunkt in Bezug auf psychologische und pädagogische Perspektiven hat, ist das sehr entschieden: Demnach sei Cybermobbing in jedem Falle ein Gewaltakt, ja. Ich bin da allerdings nicht so entschieden und nutze den Begriff deswegen auch nicht so gern. Selbstverständlich können beleidigende Adressierungen im Netz ihre Adressaten verletzen (und das gilt nicht nur für Kommentare, sondern auch zum Beispiel für demütigende Bilder!). Das Gewaltpotenzial von solchen Adressierungen kann also kaum unterschätzt werden – sie können sogar dazu führen, dass die Adressierten keine Möglichkeiten mehr sehen, weiterzuleben und sich das Leben nehmen. In meinem Buch habe ich die Geschichte von Amanda Todd diskutiert, die sich mit 15 Jahren das Leben nahm, nachdem Sie von MitschülerInnen, aber auch andern gemobbt wurde, vielleicht kennen Sie den Fall. Das heißt: Es sind nicht ‚nur‘ Worte; es sind nicht ‚nur‘ Bilder, sondern diese Art der Schmähung und Beleidigung kann reale, zum Teil erschreckende Folgen haben.

 

Und jetzt kommt mein Aber: Worte bedeuten nicht immer das gleiche – und je nach Kontext verändern auch Bilder ihre Bedeutung. Sie kennen es bestimmt aus der Satire: Wenn in einer satirischen Veranstaltung Hasskommentare vorgelesen werden, dann hat das auch den Zweck, ihr beleidigendes Potenzial umzukehren und ihre Bedeutung zu verschieben. Das bedeutet, dass Adressierte nicht per se ‚Opfer‘ sind, sondern auch noch Handlungsmöglichkeiten haben. Aber das ist sehr schwierig, denn es gibt keine Garantie, dass sich die beleidigende Bedeutung von Wörtern oder Bildern umkehren lässt. Um es zusammenzufassen: Mediatisierte Missachtung hat das Potenzial zu verletzen, aber sie ist nicht unbedingt ein Gewaltakt per se. Diese Betrachtung hat den Vorteil, dass sie die Handlungsspielräume betont und die Adressierten nicht einfach als ‚Opfer‘ von ‚Gewalt‘ ansieht.

 

Warum werden die Opfer so fertig gemacht?

Es ist sehr schwierig, genau zu sagen, welche Motive im Einzelnen dahinterstecken. Wahrscheinlich ist sogar, dass die wenigsten Menschen bewusst wissen, warum sie das tun, ich glaube auch, dass die Wenigsten ein konkretes Ziel verfolgen. Was aber sicherlich ein Grund ist, ist die (falsche!) Annahme, dass Beleidigungen und Demütigungen über das Internet ja irgendwie gar nicht so weitreichende Konsequenzen haben.  So als wären diese Herabsetzungen gar nicht so ‚schlimm‘, weil sie ja ‚nur‘ in virtuellen Welten kursieren.

Das ist natürlich eine fatale Fehleinschätzung: Kommentare und Bilder in ‚Sozialen Netzwerken‘ haben sehr wohl Konsequenzen im ‚echten‘ Leben.  Ja, ich würde sogar noch weiter gehen: Die Realität und das Internet sind mittlerweile kaum noch zu unterscheiden. Das gilt für die Generation der sogenannten ‚Digital Natives‘, also derjenigen, die schon von Beginn an mit digitalen Technologien aufgewachsen sind wahrscheinlich plausibel – 9. Klässler würde ich schon zu dieser Generation zählen, denn für Sie ist Kommunikation ohne digitale Medien kaum denkbar. Viele vergessen aber, dass das Absenden einer Nachricht Menschen erreicht, die sehr darunter leiden können, Ängste entwickeln, Orte meiden usw.

 

Haben Sie Tipps für Opfer?

Diese Frage stand in meinem Buch weniger im Fokus, sondern es ging mehr darum herauszustellen, dass eine Art ‚Schlachtplan nach Schema F‘ nicht funktioniert, weil wir es im Kontext digitaler Medien mit einer ständigen Unkontrollierbarkeit zu tun haben. Ich möchte dennoch eine Antwort geben: Warum reden für eigentlich über die Adressierten und nicht über diejenigen, die derartige Nachrichten absenden? Lassen Sie uns mal die Perspektive ändern, um schon im Vorhinein zu verhindern, dass dies überhaupt passiert. Hier geht es um ethische Fragen: Jeder sollte sich darüber im Klaren sein, dass es auch sie oder ihn jederzeit treffen kann. Keiner von uns ist perfekt, und: Wollen wir überhaupt alle perfekt sein? Was ist das überhaupt, ein ‚perfekter‘ Mensch? Es geht darüber hinaus darum, sich klar zu machen, dass es nicht ‚nur‘ irgendwelche Nachrichten sind, die konsequenzenlos bleiben. Kann und darf ich wirklich den Lebensraum anderer Menschen einschränken? Und wer bin ich, um zu entscheiden, wie Menschen leben dürfen und wie nicht?

Für die Adressierten ist es meiner Ansicht nach gut, sich Menschen anzuvertrauen, sich Hilfe bei Lehrerinnen und Lehrern, den Eltern, von Freundinnen und Freunden usw. zu holen – einen allgemeinen Plan gibt es da nicht, jeder Fall muss individuell angeschaut werden.

Mir scheint, dass die Diskussion dieses Themas im Rahmen eines Schulprojekts eine tolle Idee in die richtige Richtung ist – sich in der Klasse darüber auszutauschen und Räume zu schaffen, in denen jeder sein kann und darf ohne negativ kommentiert zu werden, das ist ein guter Weg. Und: Wie langweilig wäre es denn, wenn wir alle ‚schön normal‘ wären?

 

Dieses Interview entstand mit freundlicher Unterstützung von Frau Dr. Eickelmann.

Vielen Dank dafür.

 

Von Robin Otto